Krisenbewältigung durch Netzwerkarbeit
Migration ist ein intensiver und vielschichtiger Prozess, der mit vielen Entscheidungen, neuen Erfahrungen, aber auch mit Zweifeln und Ängsten begleitet wird. Angefangen bei der Abwägung, sich an einem Ort (dauerhaft oder temporär) niederzulassen, über die finale Entscheidung über Zielort und Migrationsart, der Vorbereitung, bis zu dem Reiseweg und das Einleben im neuen Zuhause, ist viel zu bewältigen. Das erfordert viel Stärke; und was oftmals unterschlagen wird: Nach der Einreise im Zielland hört diese Belastung nicht schlagartig auf. Ist die Ankunft in dem neuen Land zunächst noch aufregend und die Unterschiede zwischen Ankunftsland und dem Heimatland eher positiv, legt sich irgendwann die Euphorie der „Honeymoon-Phase“ und schafft Platz für die nächste Phase des Ankommens: Die „Phase der kritischen Anpassung“.
Die Phase der kritischen Anpassung zeigt sich typischerweise während des Einlebens im neuen Zuhause. In dieser Phase geraten die Menschen in Kontakt mit der vielleicht noch fremden Kultur – und sammeln dabei nicht nur positive Erfahrungen: Man tritt in Fettnäpfchen, sprachliche Barrieren erschweren die Kommunikation und es kann das frustrierende Gefühl aufkommen, dass viele Dinge in der Heimat einfacher oder besser sind als im neuen Land. Gefühle wie Angst, Wut, Zweifel und Trauer sind präsent. Und je nach persönlicher Situation und Umstände können die Ausmaße schwer wiegen: Studien zeigen, dass insbesondere in dieser Phase die Wahrscheinlichkeit erhöht ist, Depressionen, psychosomatische Beschwerden und posttraumatische Belastungsreaktionen zu entwickeln (siehe Hofmeister, 2014). Da dieser Zustand allerdings einige Zeit nach der Ankunft auftritt, findet die Phase der kritischen Anpassung nicht immer die gesellschaftliche Beachtung, die nötig wäre, um deren Folgen abzumildern.
Und hier kommt die Arbeit von Migrations-Netzwerken ins Spiel. Denn den Heimatort zu verlassen, rüttelt an einem unserer tief verankerten Bedürfnisse: Dem Bedürfnis nach Sicherheit. Damit ist auch die emotionale Sicherheit gemeint, die Möglichkeit, sich Menschen anzuvertrauen und das Gefühl zu haben, nicht einsam zu sein. Besonders in der Phase der kritischen Anpassung kommt der Mangel an emotionaler Sicherheit zutragen: Man fühlt sich alleingelassen, zweifelt an seiner Entscheidung und hat das Gefühl, keinen Platz in der Gesellschaft zu haben. Migrations-Netzwerke können hier Brücken schlagen: Sie führen Menschen mit ähnlichen Schicksalen zusammen und können durch regelmäßige Interaktion Wege schaffen, um füreinander da zu sein. Das kann durch Erfahrungsaustausch geschehen, aber auch das Sprechen der Heimatsprache oder ein gemeinsames Essen heimischer Lieblingsgerichte kann die Sehnsucht nach der verlassenen Heimat stillen, Wohlbefinden schaffen und Krisen langfristig abschwächen.
Die Wirkung eines Netzwerkes geht jedoch darüber hinaus: Denn der Austausch von Erfahrungen im neuen Land ist ein wesentlicher Faktor, welcher zu einem erfolgreichen Integrations- und Inklusionsprozess beiträgt. Das gemeinsame Erlernen der neuen Landessprache, aber auch Hinweise zum Ausfüllen von Formularen, die Unterstützung bei Behördengängen oder die gegenseitige Vermittlung von Jobs sind beispielsweise fördernde Hilfsangebote. Denn wer kennt die Probleme von Neu-Migrierten besser als Menschen, die in der Vergangenheit ebenfalls migriert sind? Der Erfahrungsaustausch bietet Unterstützung, Wertschätzung und eine Begegnung auf Augenhöhe – das, was vielen in der neuen Heimat fehlt. Durch Netzwerkarbeit können diese Bedürfnisse aufgefangen und Personen in turbulenten Phasen gestützt werden. So leisten die Netzwerke mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag zu einer inklusiven und integrierenden Gesellschaft – was deren formale Tätigkeiten weit übersteigt.